Die Judika-Rede 2020 von Lena Justa

Von der visuellen Kommunikation zur visuellen Komplikation

Veröffentlichung • 16.06.2021

Die Judika-Reden werden im Normalfall im Schuljahresbericht veröffentlicht. Wegen der Pandemie konnte es leider im letzten und in diesem Schuljahr kein Schuljahresbericht geben. Aufgrund des fehlenden Schuljahresberichtes wird die Judika-Rede 2020 ausnahmsweise auf der Website veröffentlicht.

Eine neue Arbeitsgruppe befasst sich mit dem Problem im neuen Schuljahr. Der Bericht wird in veränderter Form im Schuljahr 2021 / 2022 veröffentlicht. Gerne suchen wir Schüler, die daran arbeiten möchten, da es eine Zusammenarbeit zwischen Schülern und Lehrern sein sollte. Möglichkeiten dazu werden in Form einer Projektgruppe Klasse 11, in einem WPU Kurs (Medien) und ein Ganztagsangebot (DigiLOTSEN) geben. Wir werden die Öffentlichkeitsarbeit und die Digitalisierung an der Schule so gut wie möglich kombinieren. Bei Interesse unbedingt bei Frau Herrmann oder Herr Burian melden!

Die Judika Rede von Lena Justa (Abitur 2020):

Von der visuellen Kommunikation zur visuellen Komplikation

Ein Gespräch ist

kein Dauervortrag,

keine Endloserzählung,

nicht einseitig,

nicht ermüdend.

Ein Gespräch hat Seltenheitswert.

Mit diesem Zitat der deutschen Dichterin Else Pannek möchte ich Sie, verehrte Lehrerinnen, Lehrer und Gäste, sowie Euch, liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, herzlich zur diesjährigen Judika-Rede begrüßen.

Das Handy – in der gesamten Geschichte der Menschheit hat wohl kein technisches Gerät so schnell und so intensiv die Nähe der Menschen erobert – im körperlichen wie auch im  übertragenen Sinne. Wir können Nachrichten um die ganze Welt schicken, Bilder von Handy zu Handy, immer und überall kommunizieren, mit wem wir wollen – nur wirklich etwas zu sagen, haben wir uns anscheinend nicht mehr.

Ob WhatsApp, Twitter, Instagram, Snapchat oder Facebook: Unsere Smartphones sind stets und ständig in Benutzung. Und wenn nicht, stecken sie in der Hosentasche. Nachts liegen die Handys neben dem Kopfkissen. Nur welche Gefahren birgt  der ständige Umgang mit neuen Medien überhaupt? Lag der Sinn in ihrer Schaffung nicht darin, die Menschen miteinander zu verbinden? Eigentlich sollte die Kommunikation doch dort ermöglicht werden, wo es sonst aufgrund großer Distanz nicht möglich war. Ich für meinen Teil finde dieses Ziel weit verfehlt. Wir vernetzen uns auf der ganzen Welt und doch sind wir immer einsamer. Wir sitzen zwar zusammen, aber sind uns fremder als je zuvor. Wir leben im gleichen Haus, aber anscheinend aneinander vorbei.

„Von der visuellen Kommunikation zur visuellen Komplikation“: Warum habe ich dieses Thema gewählt? Meine kleine Schwester Hanna wird in wenigen Wochen elf Jahre alt und ist die Letzte in ihrer Klasse ohne Handy. Dementsprechend ist ihr Wunsch nach einem Smartphone bei uns zu Hause ein stets präsentes Thema. Ich kann sie sehr gut verstehen, denn ich weiß noch allzu gut, dass ich in der sechsten Klasse zu den zwei Schülern gehörte, die als einzige kein Handy besaßen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie groß die Freude war, als ich zu meinem zwölften Geburtstag schließlich auch eines bekam. Aus heutiger Sicht kann ich die Argumente meiner Eltern sehr gut nachvollziehen, denn sie haben diese Entscheidung ganz bewusst getroffen. Nicht etwa, weil sie dem technischen Fortschritt gegenüber abgeneigt sind. Ganz im Gegenteil: Mein Vater arbeitet im IT-Bereich und in der Medien-Branche. Gerade dort ist die Entwicklung in den vergangenen Jahren in einem rasanten Tempo vorangeschritten. Vielmehr wollten mich meine Eltern schützen.

Heute kann ich sagen, es war eine gute Entscheidung, denn auch wenn ich es damals nicht verstehen konnte, haben sie mir fernab der digitalen Welt ein Stück weit Unbeschwertheit geschenkt. Es ist wahr, dass man durch den Einfluss von neuen Medien verändert wird. Nehmen wir zum Beispiel meine Großeltern, für die WhatsApp mittlerweile das Hauptkommunikationsmittel geworden ist. Statt miteinander zu telefonieren, wird schnell einmal eine Nachricht geschickt. Es ist teilweise schon so weit gekommen, dass man sie im Familienurlaub darum bitten muss, das Handy beim gemeinsamen Essen vom Tisch zu legen. Dabei haben sie in ihrer Zeit als Lehrer immer viel Wert daraufgelegt, dass das Handy keine allzu große Rolle spielen sollte. Diese Meinung haben sie immer und überall vehement vertreten. Ich habe dieses Thema gewählt, weil es nicht nur bei mir zu Hause, sondern im Leben von uns allen extrem präsent ist, denn wir werden täglich mit Medienkonsum und den Komplikationen, die daraus resultieren, konfrontiert. Smartphones sind Segen und Fluch zugleich.

Es ist doch beachtlich, wie sich alles verändert hat, oder? Führen wir uns einmal vor Augen, dass das das erste handliche Mobiltelefon, das man kaufen konnte, 1983 auf den Markt gekommen ist. Es kostete 4 000 Dollar, sah aus wie ein dicker Knochen, wog fast ein Kilogramm und man konnte damit gerade einmal eine halbe Stunde telefonieren. Und dennoch besaßen schon ein Jahr später 300 000 Menschen den Urvater des modernen Mobiltelefons. Mit einem Lächeln auf den Lippen erzählen mir meine Eltern immer wieder, wie Freundschaften in ihrer Jugendzeit funktioniert haben, als man sich noch Briefe schrieb, auf dem Spielplatz traf und eine Verabredung nicht einmal eben kurzerhand per digitaler Nachricht möglich war. Für die meisten Jugendlichen heutzutage ist das wohl unvorstellbar. Genauso unvorstellbar, wie die Tatsache, dass es zum guten Ton gehört, sich gegenseitig zu grüßen. Wir begegnen täglich Bekannten auf der Straße, aber senken den Blick. Und gehen nicht auch im Schulalltag die einfachsten Höflichkeitsformen verloren? Wie oft hört man denn überhaupt noch ein freundliches „Hallo“ und ein höfliches „Guten Morgen“ oder ein  einfaches „Bitte“ und „Danke“?

Obwohl meine Eltern bei meiner Erziehung stets darauf geachtet  haben, dass ich anderen Menschen freundlich und höflich gegenübertrete, ist mir das in der Vergangenheit ganz sicher nicht immer gleich gut gelungen. Mir ist jedoch noch gut in Erinnerung, dass auch die Lehrer in den ersten Monaten meiner Grundschulzeit großen Wert auf Höflichkeit und ein freundliches Miteinander gelegt haben. Für mich endete vor einigen Wochen meine Schulzeit. Ihre Anfänge liegen allerdings nicht so lange zurück, als dass ich es als normal empfinden würde, wie sehr sich die Normen und Werte im Laufe der Zeit verändert haben. Miteinander zu reden, lernt man nur durch Reden und ich glaube, dass unsere Generation verlernt, miteinander zu reden, weil sie so viel Zeit mit den digitalen Medien verbringt.

Natürlich ist es erforderlich, die kommunikativen Maßnahmen an die momentane Situation anzupassen. Nach einer Zeit des Lockdowns, in der Kommunikation fast ausschließlich über die digitalen Medien möglich war, fällt es sicher jedem schwer, auf andere zuzugehen. Es geht aber darum körperlich Abstand zu halten, nicht jedoch zwischenmenschlich.

Aktuell hat das Corona-Virus unsere Gesellschaft und Business-Welt fest im Griff. Gerade in dieser Zeit ist es wichtig die Kommunikation nicht auf ein Minimum herunterzufahren, sondern Empathie zu zeigen. Sich den Ängsten und Hoffnungen seines Gegenüber anzunehmen, ist in Krisenzeiten noch wichtiger als sonst.

Wenn man bedenkt, dass die Bildschirmzeit von Jugendlichen, also die Zeit, die sie täglich am Handy verbringen, im Durchschnitt fünf Stunden beträgt und sie das Smartphone knapp 60 Mal am Tag aktivieren, ist es doch nur logisch, dass das soziale Leben miteinander und die Lernleistungen auf der Strecke bleiben. (Quelle: www,medien-sicher.de, Stand: 2015) Es ist bewiesen, dass durch den Medienkonsum und die sogenannte instant gratification, also die sofortige Befriedigung eines Bedürfnisses, die Konzentrationsfähigkeit abnimmt. Man wird vom Erreichen langfristiger Ziele durch angenehmere kurzfristige Aktivitäten abgehalten. Ich meine: Vielen von uns fehlt nicht nur die Konzentration, sondern auch das Engagement. Wir schauen uns an, wie Vereinzelte im Internet ihren Erfolg preisgeben. Aber warum stehen nur die Wenigsten auf und arbeiten an ihrem eigenen Gelingen? Es fehlt an der Motivation, etwas Außergewöhnliches zu leisten. Gut im Fortnite spielen zu sein, mag ja einigen als besondere Leistung erscheinen, aber im wahren Leben hat man damit noch nichts gekonnt. Ehrlich gesagt ist es ja auch ziemlich verlockend: Im Internet kann man sich präsentieren, wie man möchte, und bekommt (wenn auch größtenteils falsche) Anerkennung durch Personen, die man eventuell gar nicht kennt. Es schmeichelt dem Ego. Wenn man etwas postet, entwickelt man eine Erwartungshaltung. Es baut sich Spannung auf. Den ständigen Wechsel aus Spannung und Entspannung empfinden die Menschen als angenehmen Reiz, bei dem Glückshormone ausgeschüttet werden. Dieses positive Gefühl wollen die Menschen immer wieder haben. Auf die Nase fällt man dann allerdings, wenn man bemerkt, dass es im wahren Leben mehr bedarf, als ein Foto zu bearbeiten und online zu stellen, um jemanden zu gefallen.

Neue Medien sollen uns das Leben erleichtern, machen uns aber in Wirklichkeit nur bequemer. Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen: voice services, wie beispielsweise Alexa. Heutzutage reden alle von Datenschutz und sind froh darüber, dass es die Stasi nicht mehr gibt. Jetzt wird aber sogar Geld für den persönlichen Spitzel im eigenen Wohnzimmer ausgegeben, nur um nicht mehr aufstehen zu müssen, wenn man Musik abspielen oder das Licht einschalten möchte. Dass man dabei jedoch viel zu nachlässig mit persönlichen Daten umgeht, die abgehört und gespeichert werden können, scheinen die meisten außer Acht zu lassen. Und genau an diesem Punkt kommt es vom Kleinen ins Große: Die Gefahren beschränken sich nämlich nicht nur auf die Überwachung unserer Haushalte. Täglich werden Jung und Alt Opfer von Verschwörungen und Gewaltattacken im Netz. So ist uns zum Beispiel der Enkeltrick schon länger bekannt. Im vergangenen Jahr vermehrten sich aber auch Angriffe gegen Kinder: Inmitten von Youtube-Videos trat plötzlich „Momo“, eine verzerrt aussehende Gestalt, auf und überredete Kinder zu Gewalttaten. Gleiches wurde auch über andere Medien versucht, indem sich die Hacker in Lautsprecher einklinkten und von dort aus ihre Aufforderungen abspielten, welche sogar in Selbstmorden endeten.

Häufige Opfer für Angriffe sind aber nicht nur diejenigen, die hilflos scheinen, sondern in erster Linie Menschen, die besonders in der Öffentlichkeit stehen. So sind übers Internet initiierte Angriffe, wie die Farbattacke auf den Hamburger Innensenator Andy Grote kurz vor Weihnachten, eher noch eine harmlose Variante. Schlimmer trifft es diejenigen, die täglich Morddrohungen im Netz ausgesetzt sind. Dass es dabei nicht immer nur bei leeren Drohungen bleibt, zeigt der Fall von Walter Lübcke, einem Politiker der CDU, der im Juni 2019 vor seinem Wohnhaus mit einem Pistolenschuss in den Kopf von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. Ursache seien Lübckes Äußerungen zur Flüchtlingskrise 2015 gewesen, auf die eine starke Hetze folgte. Ein Fall, der uns gleich mehrere Dinge zeigt: Zum einen, dass das Internet ein wichtiges Arbeitsfeld für Politiker geworden ist, auf dem sie ihre Meinung auf kurzem und unkompliziertem Wege kundtun können. Zum anderen bietet das Internet großen Raum für Radikalisierungen, die in der Vergangenheit nicht selten zu Terroranschlägen geführt haben. Es fällt im Netz bedeutend leichter, Grenzen zu überschreiten. Hass, Beleidigungen und Diskriminierung gewinnen unter dem Deckmantel der Anonymität leicht die Überhand. Ein weiteres Beispiel für eine solche Grenzüberschreitung sind Schaulustige, sogenannte Gaffer, die bei Unglücken wie Unfällen, Naturkatastrophen oder Gewalttaten Videos und Bilder aufnehmen und somit Rettungsarbeiten oder den Verkehr behindern. Teilweise spricht man sogar vom Voyeurismus, der dieses Verhalten in Verbindung zum Nervenkitzel bringt. Durch die zunehmend bedeutender gewordene Nachrichtenfunktion der Sozialen Medien, kommt es sogar dazu, dass gewisse Redaktionen Geld für möglichst aufsehenerregende Leserfotos von Tatorten bezahlen.

Aber ist hier nicht jeder Einzelne von uns gefordert? Nur weil wir das Privileg besitzen, solche Medien nutzen zu können, dürfen wir uns doch nicht das Recht herausnehmen, diese ohne jeden Sinn und Verstand für Hetze und Kriminalität zu missbrauchen. Und doch ist dies keine Seltenheit, wie uns der Mordanschlag im hessischen Hanau zeigt, bei dem Anfang der Jahres der Angriff von Tobias Rathjen elf Tote mit sich zog. Er hatte auf Youtube ein Manifest veröffentlicht, in dem er sich diskriminierend über Migranten aus arabischen Ländern und der Türkei äußerte, bevor er in zwei Bars wild um sich schoss. Anschließend tötete der Schütze seine Mutter und sich selbst. Außerdem hinterließ er ein Bekennerschreiben. In dem Brief schrieb der Täter, dass bestimmte Völker vernichtet werden müssen. Die Bundesregierung spricht von rechtsextremen Terror. Es wird schon seit geraumer Zeit von Regierung und Parteien diskutiert, wie Anschlagspläne besser verhindert werden können. Passiert ist in dieser Richtung bisher leider nur wenig. Durch die vielseitigen Möglichkeiten, mit denen wir heutzutage Bilder oder Internetlinks teilen, verbreiten und zeigen können, fällt es radikalen Gruppen wie dem IS oder, um ein für uns vor Ort präsenteres Beispiel zu nennen, Rechtsradikalen immer leichter, an Reichweite zu gewinnen. Oder wer von euch hat nicht schon mal rechtsradikale Bilder im WhatsApp-Status von Bekannten gesehen? Gerade bei so heiklen Themen sollte es doch nicht so einfach sein, Informationen zu verbreiten. Es kann ja nicht einmal gewährleistet werden, dass diese fundiert und wahr sind. Fakt ist meiner Meinung nach: Immer weniger Menschen hinterfragen etwas, wenn sie es sehen oder lesen. Viel zu viele verbreiten sinnlos Dinge im Netz, die sie lesen und für wahr befinden, um ihre Meinung auszudrücken. Internetnutzer können vielmehr unmittelbar auf Nachrichten reagieren, selbst als Multiplikatoren wirken und eigene Kommentare veröffentlichen. Über diese Form des Austauschs lassen sich im rasanten Tempo Gleichgesinnte finden. An genau diesem Punkt ist es wichtig, dass wir den Kopf einschalten und uns genauer mit den Themen befassen! Wenn wir das tun, werden wir merken, dass längst nicht alles wahr ist, was man liest und sieht. Stichwort „Fake News“. Bedenkt immer: Eine zweifelhafte Behauptung muss nur recht häufig wiederholt werden, dann schwächt sich der Zweifel in der Regel etwas ab und findet Leute, die selbst nicht mitdenken, aber annehmen, mit so viel Sicherheit und Beharrlichkeit könne Unwahres nicht behauptet oder gedruckt werden.

Während der aktuellen Corona-Krise ist es  natürlich wichtig, nicht nur zu Handeln, sondern auch darüber zu berichten. Denn nur, wenn andere davon erfahren, dass auch Sie außergewöhnliche Maßnahmen im Kampf gegen die Krise ergreifen, kann daraus Kreativität entstehen und andere ziehen nach. Eine besonnene und gelungene Kommunikation übers Internet bedeutet,  dass sauber aufbereitete Informationen, die für jedermann verständlich sind, verbreitet werden. Gute Kommunikation ist in Zeiten des Info-Overkills ein Beitrag, der nicht zu unterschätzen ist. Denn in Krisen wie dieser ist es manchmal nicht der Virus, der die größte Gefahr bedeutet, sondern der Umgang damit.

Whatsapp, Twitter und Facebook haben ihren ramponierten Ruf als „Brandbeschleuniger der Massen“ zur Corona-Zeit leider bestätigt. Dort verbreiteten sich im rasanten Tempo Fakenews, die Aufregung und Panikmache mit sich ziehen. Viele News, viel Information, viel Verunsicherung. Fakenews befeuern diese Situation. Wohltuend ist es, zu sehen, dass es auch Beiträge der Vernunft gibt. Wohl dem, der einen Kanal aufgebaut hat, der große Teile der Zielgruppe direkt erreichen kann, wie zum Beispiel international das Bundesgesundheitsministerium auf Twitter.

In einer Zeit, in der es vermutlich leichter für uns ist, Drogen wie Dopamin zu erhalten, als an wahre Informationen zu gelangen, möchte ich heute die Chance nutzen und an alle hier im Saal anwesenden appellieren: Glaubt nicht alles, was ihr hört! Hinterfragt Dinge und macht euch ein eigenes Bild!

Stellt sich mir die Frage: Warum wird nicht verhindert, dass wir an vielen Stellen im Netz für derart dumm verkauft werden? Zumindest die großen Unternehmen haben jedenfalls kein Interesse daran, dieses Problem zu lösen, schließlich sind sie diejenigen, die in erster Linie davon profitieren und viel Geld verdienen können. Gerade Firmen sind es doch, die dafür bezahlen, dass wir durch Werbemaßnahmen, bei denen beispielsweise das jeweilige Produkt wie beiläufig ins Bild gebracht wird, manipuliert werden. Youtube-Videos, in denen Produkte präsentiert und bewertet werden, kennt inzwischen jeder von uns. Eine Trennung von realen Inhalten erfolgt in den Medien oftmals gar nicht mehr oder nur halbherzig. So verschwimmen die Grenzen zwischen Unterhaltung, Werbung und PR. Man bemerkt kaum, dass es ja ein äußerst günstiger Zufall ist, dass mir von den Influencern nur kurze Zeit nachdem ich ein neues Produkt bei ihnen gesehen habe, Rabattcodes für die jeweilige Firma hinterhergeworfen werden. Die Firmen machen es sich zunutze, dass wir den ganzen Tag in den Medien verbringen, denn sie profitieren davon nur. Ich sehe jedenfalls niemanden, der sich für den Schutz vor zu viel Medienkonsum einsetzen wird, wenn nicht wir selbst.

Ist es nicht erstaunlich, dass sich bei uns ein Automatismus entwickelt hat und man sogar ohne Anlass aufs Handy schaut? Im Gegensatz zu Substanzen wie Drogen und Alkohol ist das Smartphone immer und überall verfügbar und seine Nutzung wird gesellschaftlich toleriert. Hinzu kommt, dass das moderne Mobiltelefon viele Funktionen beinhaltet, die das Belohnungssystem im Gehirn anregen. Push-Benachrichtigungen, neue Follower oder eine neue Nachricht – mit verschiedenen Mitteln werden Benutzer immer wieder von den sozialen Medien auf ihre Webseite gelockt. Zudem arbeiten Produktdesigner kontinuierlich daran, die Produkte noch suchterzeugender zu machen. Doch wo hört genussvoller Gebrauch auf und fängt die Abhängigkeit an? Um eine solche Abhängigkeit zu erkennen, bedient man sich laut Ärzten sieben Kriterien, die zur Diagnose nicht-stoffreicher Abhängigkeiten generell herangezogen werden. (Quelle: Deutsches Ärzteblatt) Auf die Handysucht bezogen lauten die Merkmale:

  • Die Gedanken beschäftigen sich ständig mit dem Smartphone, man schaut immer wieder auch ohne Anlass aufs Display.
  • Man verbringt immer mehr Zeit mit der Nutzung
  • Wenn man keinen Zugriff auf das Mobiltelefon hat, wird man reizbar und ruhelos.
  • Man versucht den Konsum einzuschränken, scheitert jedoch damit.
  • Die Smartphone-Nutzung wird zur dominanten Aktivität; andere Dinge werden untergeordnet.
  • Man belügt sich und andere über das tatsächliche Ausmaß des Konsums.
  • Das Smartphone erfüllt die Funktion, negative Gefühle zu unterdrücken und Problemen auszuweichen.

Und? Sicherlich seid Ihr gerade im Kopf die Punkte durchgegangen und habt darüber nachgedacht, ob diese auch auf Euch zutreffen. Ich könnte wetten, dass bei vielen sogar mehrere Punkte zutreffen, jedoch würden sich sicherlich die wenigsten von Euch tatsächlich als abhängig bezeichnen. Bei einer Verkettung von zutreffenden Aussagen ist eine Sucht jedoch Fakt.

Natürlich kann ich in meiner Rede nicht nur die „Belehrungskeule“ schwingen und unser Verhalten in Bezug auf Medien kritisieren. Aber ich möchte Euch sagen: Das Ausmaß unseres Medienkonsums ist schlichtweg nicht normal. Noch nie zuvor in der Geschichte gab es so viel Einsamkeit und so viele Suizide. Aufgrund der neuen Einflüsse hat sich das Gehirn bereits umstrukturiert und es gibt immer mehr verträumte Menschen. Viele werden antriebslos und ihnen fehlt jegliche Konzentration. Dies geht sogar so weit, dass es für einige Menschen nicht mehr möglich ist, einen Film zu sehen oder ein Buch zu lesen, da ihre Aufmerksamkeitsspanne zu kurz ist. Für Drogen, Alkohol oder Zigaretten gibt es Verbote und Mindestaltersbeschränkungen.  Digitale Medien machen Kinder abhängig, krank und egozentrisch. Warum gibt es also keine Gesetze, die den Umgang mit Suchtmitteln wie Smartphones regeln? Für mich ist es unverständlich, dass es einen uneingeschränkten Zugang für Jugendliche und leider auch schon Kinder zu sozialen Medien gibt. Natürlich ist die Nutzung gewisser Apps erst ab einem bestimmten Alter erlaubt, aber wer kontrolliert das denn? Am Ende der seitenlangen Nutzungsbedingungen auf „Bestätigen“ zu drücken, bekommen selbst die Jüngsten problemlos hin. Natürlich ist es für Eltern einfacher und bequemer, ihrem Kind ein Handy in die Hand zu drücken, als sich mit ihm auseinanderzusetzen, zu beschäftigen oder ihm die Welt zu erklären. Unter Psychologen, Medienexperten oder Lehrern gibt es viele, die in den neuen Medien für Kinder vor allem eine Gefahr sehen. Der vielleicht bekannteste Vertreter ist der Hirnforscher Manfred Spitzer von der Uniklinik Ulm. In seinen Büchern spricht er davon, dass die ständige Nutzung von digitalen Medien die Gesundheit ruiniert. Vor allem für Kinder seien die Gefahren groß, denn ihre Gehirne seien noch im Wachstum und würden durch Online-Aktivitäten massiv in ihrer Entwicklung gestört.

Erziehung setzt sich zusammen aus Liebe, einem Vorbilddasein, Konsequenzen und gesetzten Grenzen. Genau diese müssen sich aus meiner Sicht aber auch im Internet finden, um Schutz zu gewährleisten. So wäre es meiner Meinung nach angebracht, die Ausweisnummern zum Anmelden abzufragen und Zeitkontingente für Kinder zu errichten. Wir sind in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Schutz der nachfolgenden Generationen im Netz gewährleistet ist. Für uns übernimmt aktuell niemand Verantwortung. Wir müssen selbst erkennen, dass uns unser Medienkonsum alles andere als guttut und rechtzeitig die Reißleine ziehen. Dabei bewährt es sich, Nachrichten- und Social-Media-Kanäle nur zu festgelegten Zeiten zu nutzen oder  Funktionen vom Smartphone zu entkoppeln, um gar nicht erst in Versuchung zu geraten. Wer von Euch hat denn beispielsweise im heimischen Schlafzimmer überhaupt noch einen Wecker zu stehen oder trägt eine Armbanduhr? In jedem Fall sollte jeder für sich die Regel aufstellen, dass anwesende Menschen immer Vorrang haben, was die eigene Aufmerksamkeit betrifft. Das Handy darf nicht von oberster Priorität sein.

Ich denke, dass viele um ihr Fehlverhalten in Bezug auf den Umgang mit den neuen Medien wissen, aber einfach zu bequem sind, etwas zu ändern. Ich bin überzeugt davon, dass ein zunächst vielleicht unfreiwilliger Entzug vom Handy über einen gewissen Zeitraum hilft, ein gesundes Maß zu finden, Medien in den Alltag zu integrieren. Deshalb bin ich dafür, dass das Handy-Experiment, das Herr Wiersbitzki in unserer Schule bereits mit einigen Jahrgängen durchgeführt hat, vermehrt einzusetzen. Dabei haben die Schüler für zwei Wochen, inklusive dreier Wochenenden, ihre Handys in der Schule abgegeben und in dieser Zeit „Tagebuch“ geführt. Die Reaktionen der Teilnehmer reichten von Aussagen wie „Drama“ bis hin zu „Irgendwie ist es besser ohne Handy“. Insgesamt stieß das Experiment auf positiveres Feedback als ursprünglich erwartet. Nicht zwingend zog es bessere Noten mit sich, aber eine merkbar bessere Lernvorbereitung, da sich die Schüler zum Beispiel mit ihren Hausaufgaben selbst befassen mussten und diese nicht einfach über WhatsApp austauschen konnten. Außerdem gaben die Schüler an, dass der kalte Entzug bereits nach drei Tagen nachließ, sie mehr geschlafen und die Zeit besser für sich und ihr Umfeld genutzt haben. Bei vielen besserten sich das Verhältnis zur Familie und die Kommunikation mit den Eltern deutlich.

Wenn wir dieses Experiment zukünftig konsequent durchführten, so würde eine Reihe von Schülern erkennen, dass es so überhaupt gar keinen Nutzwert hat, auf Snapchat Flammen zu sammeln oder sich Instagram-Posts vom Essen anderer Leute anzugucken. Stattdessen würden sie viel mehr Zeit mit- und nicht nebeneinander verbringen, lernen, was es bedeutet, im direkten Gespräch Interesse am Gegenüber zu zeigen. Außerdem sind die Schüler gezwungen, statt alles, was ihnen unbekannt ist, im Internet zu googeln, die Eltern- oder Großeltern um Rat zu bitten, in einem Lexikon nachzuschlagen oder beim Nachdenken selbst auf die Lösung zu kommen. Denn wie lautet der Spruch auf einer Postkarte am Arbeitsplatz meines Vaters so schön: „Denken ist wie googeln – nur krasser.“

Außerdem hat das Experiment den positiven Nebeneffekt, dass man schnell erkennt, in welchen Fällen es sich um wahre Freundschaften handelt. Man erfährt, wer sich wirklich um einen bemüht und für wen man sonst nur gut genug ist, wenn es darum geht, an Hausaufgaben zu gelangen. Freundschaft nennt man bekanntermaßen Freundschaft, weil man mit Freunden alles schafft.

Freunde sind diejenigen, die bleiben, wenn man einmal nicht wie gewohnt funktioniert. Es geht nicht darum, in den sozialen Medien gegenseitig Kommentare unter den Bilder zu hinterlassen. Was erreicht man  denn schon mit tausenden Followern? Geht es nicht wie so oft im Leben viel mehr um Qualität als um Quantität? Auch ich spreche mich nicht davon frei, Instagram zu benutzen. Bei der Ausarbeitung dieser Rede habe ich mich in vielerlei Hinsicht selbst reflektiert und festgestellt, dass von meinen 700 Instagram-Abonnenten der Kreis derjenigen, mit denen ich tatsächlich direkten Kontakt habe, nicht groß ist. Der Anteil der Leute, die ich tatsächlich als Freunde bezeichnen würde, ist schwindend gering. Mir ist klar geworden, dass Snapchat oder die Anzahl von Instagram-Abonnenten absolut keinen Mehrwert für mich haben. Es kommt darauf an, mit wem man auch schwierige Situationen meistern kann und auf wen wirklich Verlass ist. Wenn ich ehrlich bin, kann ich die Zahl der Menschen, mit denen ich alles schaffen kann, an einer Hand abzählen. Warum investieren wir also trotzdem so viel Energie in eine Plattform voller Oberflächlichkeit, statt uns mit Menschen zu umgeben, von denen wir viel mehr zurück bekommen als ein paar Internet-Likes? Ich spreche aus eigener Erfahrung: Mehrere Nachmittage in der Woche verbringe ich meine Freizeit als Nachwuchs-Trainerin im Tanzsaal und lehre Kindern das Tanzen. Dabei erlebe ich in jeder Trainingseinheit aufs Neue, wie schön es ist, Menschen an etwas teilhaben zu lassen, was man gerne macht. Jenseits von Perfektionismus und dem Drang nach Aufmerksamkeit und Anerkennung tun wir etwas, dass uns wirklich verbindet: Tanzen und gemeinsam Spaß haben. Wenn zu Beginn des Trainings eine kleine „Tanzmaus“  tänzelnd in den Saal gehüpft  kommt, wir während des Trainings alle gemeinsam lachen oder am Ende der Einheit einige noch länger bleiben wollen, gehe ich mit einem Gefühl nach Hause, das mir keine tausend Likes geben könnten. Ich bin unglaublich dankbar für die Möglichkeit, mit den Kindern arbeiten zu können und von ihnen so viel ehrliche Freude und Dankbarkeit zurückzubekommen. Ich kann nur jedem wünschen, die gleiche Erfahrung zu machen. Geht in Vereine, arbeitetet ehrenamtlich. Leistet euren Anteil daran, dass mehr Menschen zusammenfinden und gemeinsam etwas Reales zustande bringen. Ihr werdet sehen, dass man viel mehr zurück bekommt, als es im Internet jemals möglich wäre, denn Glück vermehrt sich, wenn man es teilt.

Ich wurde von vielen gefragt, warum ich die Judika-Rede halten möchte und ob sich der Aufwand der Ausarbeitung lohnt. Ja, es hat sich gelohnt. Ich erwarte dadurch keine große Veränderung des Klimas zwischen uns oder eine radikale Kommunikationsveränderung. Bekanntlich ist es der erste Schritt zu erkennen, dass man ein Problem hat. Statt die Medien zu verteufeln, sollten wir lernen und darauf achten, sie kompetent zu nutzen. Wichtig ist diese kompetente Nutzung, um Informationen zu selektieren, Inhalte kritisch zu hinterfragen, sich angemessen auszutauschen und auf ein gesundes Maß zu achten. Wenn also einer von Euch heute hier diesen Saal verlässt und sein Medienverhalten überdenkt, so habe ich für mich schon ein kleines Ziel erreicht und die Rede hat meines Erachtens nach ihren Zweck erfüllt.

Zum Abschluss meiner Rede möchte ich Ihnen und Euch noch folgendes Gedicht mit dem Titel „Einsam in der Masse“ von Ingelore Jung mit auf den Weg geben:

Nur noch in den sozialen Netzwerken unterwegs

Dabei sein ist doch alles

Soviel Privates wird preisgegeben

Auf ganz viel Aufmerksamkeit erpicht

Fotos wandern zuhauf ins Netz

Unbegrenzt, private, auch sehr brisante

Hoffen auf ganz viele „gefällt mir“

Teilweise abertausende von Klicks

Dialoge nur noch mit Geräten führen

Durch eine belebte Stadt laufen

Den Blick einzig auf das Telefon gerichtet

Keinen Rundblick mehr wagen

Nichts sehen, nichts mehr wahrnehmen

Rundum wie ein luftleerer Raum

Total der Welt entrückt

Einsam in der großen Masse

(Quelle: www.gedichte-oase.de)

Ich danke für Ihre und Eure Aufmerksamkeit.